Deutschland, du bist verfassungsvergessen! Teil 1: Über ein Sozialsystem, das keines ist

Die inhumane und sich selbst als „leistungsgerecht“ wahrnehmende Politik des Neoliberalismus hat sich wieder einmal durchgesetzt – und zwar gegen die ureigensten Interessen der breiten Bevölkerung: Mit der Umetikettierung von Hartz 4 zum „Bürgergeld“ werden Personen ohne Arbeit auch weiterhin für etwas verurteilt und bestraft, für das sie keine Schuld tragen – und aufgrund der verfehlten Lohnpolitik der letzten Jahrzehnte kommt bei dem Teil der Bevölkerung, der eine Arbeit zu haben das Glück hat, immer weniger Wohlstand an. Die folgende Zusammenschau von Recht gewordenen Moralvorstellungen und volkswirtschaftlichen Zusammenhängen verfolgt das Ziel, ein wenig den Schleier zu heben, den der „alternativlose“ Marktfundamentalismus auf uns alle niedergeworfen hat.

Es gibt unbezweifelbar Texte, die beim Lesen ein Gefühl der Erhabenheit hervorrufen können, weil sie das moralische Selbstverständnis ganzer Gesellschaften geprägt haben und immer noch verdeutlichen. Nicht selten sind solche wirkmächtigen Texte daher in den Kontext bedeutender menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen eingebettet: So belegen etwa der Tanach, das Neue Testament und der Koran den Siegeszug monotheistischer Vorstellungen von Transzendenz, während die aus der französischen Revolution hervorgegangene Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Ausdruck des neuzeitlichen Nachdenkens über Rechtsstaatlichkeit ist.

Diese Texte haben für all jene, die sich mit ihnen identifizieren können, eine gewisse (manchmal auch eine nicht mehr legitimierbare extreme) moralische Verbindlichkeit, die in Form von „ungeschriebenen Gesetzen“ die gemeinschaftlichen Umgangsformen maßgeblich beeinflusst. Um wie viel stärker müssen wir uns also den Einfluss von Texten vorstellen, die es geschafft haben, aus dieser Sammlung ethisch bedeutender Schriften hervorzutreten und in die Form eines echten Gesetzestextes gegossen zu werden? Denn unter rechtsstaatlichen Vorzeichen sind Gesetze in erster Linie nichts anderes als verbindlich und deshalb einklagbar gewordene Moralvorstellungen.

Grundrechte kennen keine Bedingungen

Innerhalb der deutschen Geschichte gehört zu diesen moralisch und rechtlich verbindlichen Texten zweifellos das Grundgesetz, das nach dem Ende der nationalsozialistischen Terrorherrschaft den Beginn eines neuen gesellschaftlichen Selbstverständnisses markiert. Von den 146 Artikeln ist dabei der allererste sicherlich der bedeutendste und der bekannteste. In Absatz 1 heißt es dort:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 Abs. 1 GG)

Natürlich ist der Begriff der „Menschenwürde“ schwer zu fassen und vielseitig interpretierbar. Dennoch drückt er im Kern den ausdrücklich formulierten Glauben daran aus, dass menschliches Leben etwas bedingungslos Wertvolles ist, das von uns allen gegenseitig absoluten Respekt einfordert – denn letztlich sind „der Staat“ und „die Bevölkerung“ in demokratietheoretischer Hinsicht ein und dasselbe (oder sollten es zumindest sein).

Gerade weil wir hier in Deutschland Lebenden als historische Erb:innen der NS-Diktatur wissen, dass die Würde des Menschen auf mannigfaltige Weise verletzt werden kann und somit antastbar ist, verpflichtet uns der erste Grundgesetzartikel darauf, all unser gemeinschaftliches und privates Verhalten auf die Achtung und den Schutz der je einzelnen Person hin auszurichten. Wenn daher jemand behauptet, er fühle sich durch bestehende gesellschaftliche Regeln (etwa durch das vorherrschende Sozialrecht) in seiner Würde missachtet, dann ist das ein schwerwiegender Vorwurf, den wir als Gesellschaft ernstnehmen und überprüfen sollten.

Leider gibt es eine schier endlose Vielzahl von Hinweisen darauf, dass die durch die Hartz-Reformen eingeführten und durch das Bürgergeld fortgeführten Regeln seit jeher einen fundamentalen Verstoß gegen den ersten Grundgesetzartikel darstellten und noch immer darstellen [1]. Für ein Land, das sich regelmäßig auf die „westliche Wertegemeinschaft  beruft, ist allein schon das bloße Vorhandensein so vieler Leidensberichte eine nicht hinnehmbare Schande.

Es gibt ein Recht auf Arbeit, aber keine Pflicht dazu

Betrachtet man über ausgewählte Schlaglichter den sozialpolitischen Diskurs der letzten 25 Jahre, so kann sich einem das Gefühl aufdrängen, dass die verfassungsmäßig garantierte Bedingungslosigkeit von Grundrechten mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist. Die öffentliche Diffamierung und Gängelung von Personen ohne Arbeit fängt dabei zu Beginn der 1990er Jahre mit Äußerungen von Helmut Kohl („kollektiver Freizeitpark“) und Wolfgang Schäuble („soziale Hängematte“) an, gewinnt 1996 mit der von Nestlé-Chef Helmut Maucher durchaus ernst gemeinten Bezeichnung als „Wohlstandsmüll“ sowie durch das gemeinsame Thesenpapier von Gerhard Schröder und Tony Blair von 1999 an Fahrt und lässt sich dann über Roland Koch, Wolfgang Clement, Franz Müntefering, Edmund Stoiber und Ronald Pofalla, Guido Westerwelle und Angela Merkel bis in die Gegenwart hin zu Friedrich Merz und Markus Söder sowie dem „CDU-Wirtschaftsrat“, einem marktfundamentalistischen Lobbyverein mit hervorragenden Kontakten zur CDU-Parteispitze, nachverfolgen.

Schaut man sich jedoch die geltenden verfassungs- und völkerrechtlichen Regelungen an, so erscheinen all diese Äußerungen und Forderungen in einem sehr zweifelhaften Licht, denn die Bundesrepublik Deutschland hat sich im Laufe ihrer Geschichte zur Gewährleistung unter anderem der folgenden Rechte selbstverpflichtet:

„Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer […] allgemeinen […] Dienstleistungspflicht.“ (Art. 12 Abs. 2 GG)

„Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.“ (Art. 5 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta)

„Jeder hat das Recht auf Arbeit […] sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.“ (Art. 23 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte)

„Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Soziale Sicherheit an; diese schließt die Sozialversicherung ein.“ (Art. 9 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte)

Erwerbstätig zu sein, ist demnach in erster Linie ein bedingungsloses Menschenrecht und keine Pflicht – Arbeit darf also nicht zur Voraussetzung der Inanspruchnahme von Freiheitsrechten (geschweige denn von Sozialleistungen) gemacht werden, sondern ist als freiwillig in Anspruch zu nehmendes Recht selber Bedingung einer menschenwürdigen Existenz. Ob das uneindeutige Kriterium der „zumutbaren Arbeit“, die praktizierte Androhung und Umsetzung von Bestrafung und die stets mögliche Unterschreitung des Existenzminimums bzw. einer „Lebensuntergrenze“ tatsächlich mit diesen Grundrechten zu vereinbaren sind, ist juristisch daher höchst strittig und wurde bereits 2011 vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen mit einem großen Fragezeichen versehen.

Hinsichtlich dieser Aspekte ist das als „Erneuerung“ deklarierte Bürgergeld mitnichten eine Abkehr von der Bekämpfung erwerbsloser Personen, sondern lediglich eine Fortführung der bisherigen Praxis mit geringfügigen Entschärfungen. Dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung gegen die weitere Entschärfung und damit Humanisierung des Umgangs mit den wirtschaftlich Schwächsten ist, sollte uns – insbesondere vor dem Hintergrund des „sozialen Staatsziels“, das das Grundgesetz uns vorgibt – allen zu denken geben:

Neues Bürgergeld
Quelle: zdf.de (25. November 2022)

Zu leben heißt, Ressourcen zu verbrauchen

Bewegen wir uns nun ein wenig aus dem ethisch-juristischen Kontext heraus und öffnen die Tür zum Bereich der Ökonomie. Üblicherweise bezeichnet man mit „Wirtschaft“ alle gesellschaftlichen Prozesse, die sich mit der Herstellung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen befassen, um durch deren Konsum unsere mannigfaltigen Bedürfnisse befriedigen zu können. Betrachtet man dabei aus einer Vogelperspektive die Gesamtheit aller Produktionsprozesse eines Nationalstaates, so nehmen wir die sogenannte „Volkswirtschaft“ in den Blick und haben es folglich mit makroökonomischen Sachverhalten zu tun.

Es ist aus (heutiger) volkswirtschaftlicher Sicht vollkommen selbstverständlich, dass ein Teil der Bevölkerung durch seine Arbeit herstellt, was die gesamte Bevölkerung zur Bedürfnisbefriedigung benötigt, denn aus offensichtlichen Gründen können sich weder sehr junge noch sehr alte noch sehr kranke noch sonst wie arbeitsunfähige Menschen an realwirtschaftlichen Produktionsprozessen beteiligen. Dass es Personen gab und gibt, die mehr Ressourcen verbrauchen, als sie der Volkswirtschaft zur Verfügung stellen, ist damit etwas historisch vollkommen Normales und spiegelt sich heute unter anderem im überdurchschnittlich hohen Anteil der vermögendsten 10 Prozent am weltweiten CO2-Verbrauch wider.

Das eigentlich Bemerkenswerte ist also nicht, dass Personen überhaupt begrenzte Ressourcen wie Lebensmittel, Kleidung, Wohnraum, Medikamente sowie Bildungs– und Kulturgüter verbrauchen, sondern nur, dass sie das in jeweils unterschiedlichem Umfang tun. Und genau das ist der Punkt, an dem Ethik und Recht wieder eine Rolle spielen, denn als Gesellschaft müssen wir uns der Frage stellen, wie wir mit der Tatsache umgehen wollen, dass verschiedene Individuen verschiedene „Ressourcenbilanzen“ aufweisen.

Aus kollektiver Sicht ist es rational und schlüssig, auf diese Frage mit der Formulierung von Untergrenzen bzw. Obergrenzen pro Person zu reagieren, also über die versuchsweise Quantifizierung von Bedürfnissen einen Minimalverbrauch („niemand verhungert“) sowie einen Maximalverbrauch („niemand konsumiert alles“) von vorhandenen Ressourcen festzulegen. Es kann daher niemanden überraschen, dass auch die Menschenrechtserklärung diesen Weg beschreitet – zumindest, was die Untergrenze angeht:

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen […].“(Art. 25 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte)

„Jeder hat das Recht auf Bildung.“ (Art. 26 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte)

„Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen […].“ (Art. 27 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte)

Der Begriff der Menschenwürde, auf den das Grundgesetz uns verpflichtet, geht also notwendig mit dem Recht auf einen bedingungslosen Mindestverbrauch von Ressourcen einher, worauf der Begriff des Existenzminimums ja auch hindeutet. Da der Verbrauch bzw. Konsum von Ressourcen in einer Marktwirtschaft jedoch primär in Geldeinheiten berechnet wird, stellen Hartz 4 und sein Nachfolger den (wenn auch sehr fragwürdig kalkulierten) Versuch dar, diesen materiellen und immateriellen Minimalverbrauch zu beziffern und zu ermöglichen.

Es ist deshalb höchst bedenklich, wenn Beziehende von Grundsicherung aufgrund von als „zulässig“ erachteten Leistungskürzungen unterhalb des Existenzminimums fallen und weniger konsumieren müssen, als ihnen aufgrund ihrer Grundrechte eigentlich zustünde. Bisher ungeklärt ist zudem die damit eng zusammenhängende Frage, warum wir gesellschaftlich zwar über ein Existenzminimum, nicht aber über ein Existenzmaximum, also eine absolute Vermögensobergrenze nachdenken (dürfen). Immerhin wurden mit dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 bereits Regeln für den nationalen Maximalverbrauch von natürlichen Ressourcen formuliert – die Ausweitung dieser Regeln auf überreiche Individuen wäre da nur der nächste logische Schritt.

Der Dreischritt aus Grundeinkommen, Jobgarantie und regulärer Beschäftigung

Wenn dem Menschen also allein durch seine Geburt das Recht auf ein menschenwürdiges Leben zukommt und ein menschenwürdiges Leben zwingend bedeutet, dass eine Person stets das Recht hat, mindestens auf dem Niveau des Existenzminimums zu leben bzw. entsprechend viele Ressourcen zu verbrauchen, dann heißt das, dass die Gesellschaft jeder Person ein Grundeinkommen zur Verfügung stellen muss, das dem bedingungslosen Existenzminimum entspricht. Wie genau dieses Grundeinkommen bzw. dieser Grundverbrauch nun ausgestaltet ist (eine hervorragende Diskussionsgrundlage dazu findet sich hier), ist zweitrangig – es ist aber in jedem Fall eine rechtliche Regelung notwendig, die zu jeder Zeit garantiert, dass eine Person innerhalb des vom Existenzminimum vorgegebenen Rahmens frei und ohne äußeren Zwang konsumieren und leben darf. Natürlich muss auch für Personen im Strafvollzug eine angemessene Regelung gefunden werden.

Wer dieses nicht verhandelbare Minimum menschlicher Existenz jetzt als „Schlaraffenland“ bezeichnet, der verwechselt das menschen- und grundrechtlich verbürgte Befreitsein von materiellen Sorgen mit der von der Epoche der Aufklärung in Aussicht gestellten Freiheit, ein selbstbestimmtes und ethisch gutes Leben führen zu können. Das eine garantiert bedingungslos lediglich das Nötigste vom Nötigen – das andere verweist auf die (in moderner Interpretation) menschliche Lebensaufgabe schlechthin, an deren erhofftem Ende der Mensch schließlich zu sich selbst gefunden haben wird.

Für die Verwirklichung dieser Lebensaufgabe spielt das Vorhandensein einer sinnerfüllenden Tätigkeit für die allermeisten Menschen eine sehr große Rolle. Arbeit ist in modernen Gesellschaften ein bedeutender Aspekt unserer Würde, unserer Identität, unserer psychischen Gesundheit und unseres Wohlbefindens – auch die meisten Beziehenden von Grundsicherung (etwa 80 bis 90 Prozent) ziehen daher das Haben einer Arbeit dem Zustand der Arbeitslosigkeit vor.

Wenn also die meisten Menschen aus ethischen, soziologischen und psychologischen Gründen arbeiten wollen, aber viele keine Arbeit finden, dann ist das vor allem auf die Diskrepanz zwischen der Anzahl unterbeschäftigter Personen (rund 6,8 Millionen) und unbesetzter Arbeitsplätze (etwa 1,8 Millionen, davor lange Zeit rund 800 Tausend) zurückzuführen. Es gibt in Deutschland also offenkundig seit Jahrzehnten viel zu wenig reguläre Arbeitsplätze, um das (zur menschlichen Würde dazugehörende und zum Menschenrecht erklärte) Bedürfnis der gesamten Bevölkerung nach Arbeit befriedigen zu können.

Da der Staat bzw. die Gesellschaft wie oben angeführt gemäß dem ersten Grundgesetzartikel nun die Pflicht hat, die menschliche Würde „zu achten und zu schützen“, liegt es in seinem bzw. ihrem Verantwortungsbereich, allen Personen, die arbeiten wollen, zu angemessenen (und eben nicht: zumutbaren) Tätigkeiten zu verhelfen und auf diese Weise für die Beendigung unfreiwilliger Arbeitslosigkeit zu sorgen; gerade auf dieses Ziel der Vollbeschäftigung hat sich die Bundesrepublik mit dem Stabilitätsgesetz von 1967 ja selbst verpflichtet.

Es gibt damit starke menschen- und verfassungsrechtliche Gründe für die Einführung einer staatlichen Jobgarantie, die das bedeutende individuelle Bedürfnis nach Arbeit befriedigt und bei fair gestalteten Mindestlöhnen zugleich ein Einkommen ermöglicht, das oberhalb der Grundsicherung bzw. des Existenzminimums liegt. Unter den Voraussetzungen moderner Geldsysteme (vgl. dazu diesen Blogartikel) kann eine solche staatliche Jobgarantie tatsächlich realisiert werden – es liegt also nicht nur in der Verantwortung, sondern auch in den Möglichkeiten moderner Staaten, unfreiwillige Arbeitslosigkeit ein für alle Mal zu beenden.

Ein reflexartiger Einwand auf den Vorschlag einer staatlichen Jobgarantie lautet nun zumeist: Was ist denn dann mit den (vergleichsweise wenigen) Leuten, die nicht arbeiten wollen, also tatsächlich freiwillig keiner Erwerbstätigkeit nachgehen? Dazu eine kleine Gegenfrage: Was soll schon mit denen sein?

Wir leben doch in einer liberalen Gesellschaft, die neben der Menschenwürde insbesondere das Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG) zu achten vorgibt – dann müssen wir auch akzeptieren und aushalten, dass es Personen gibt, denen der ihnen zustehende Minimalverbrauch an natürlichen und immateriellen Ressourcen genügt und deren eigene Vorstellung eines guten Lebens eben ohne Erwerbstätigkeit auskommt. Wem ein solcher Lebensstandard nicht genügt, hat doch davon unbenommen weiterhin die Möglichkeit, über die staatliche Jobgarantie oder den regulären Arbeitsmarkt ein höheres Einkommen zu erzielen und damit einen höheren Lebensstandard zu verwirklichen.

Produktivitätszuwachs erlaubt Wahlfreiheit

Ein weiterer häufiger Einwand betrifft die Frage, ob wir uns Personen, die nicht erwerbstätig sein wollen, volkswirtschaftlich überhaupt „leisten“ können – ob also unser kollektiv erwirtschafteter Wohlstand darunter leiden würde, wenn wir den Leuten die (grundgesetzlich zugesicherte) Wahl lassen, ob sie ihr Leben mit Arbeit oder lieber mit etwas anderem verbringen wollen. Wie schon bei der Rententhematik lohnt sich auch hier ein Blick auf die Entwicklung der Produktivität:

Produktivitätsgetriebenes und arbeitsextensives Wachstum in Deutschland seit 1960
Quelle: Alfred Kleinknecht: Die vergessene Produktivitätskrise (Makroskop, 15. Juni 2022)

Wie die Abbildung zeigt, hat sich die Produktivität in Deutschland in den letzten 60 Jahren ungefähr versechsfacht – wir stellen heute pro Arbeitsstunde also sechs Mal so viel materiellen Wohlstand her wie noch 1960. Zugleich produzieren wir seit Jahrzehnten zu viel für das Ausland und zu wenig für unseren eigenen Binnenmarkt – nichts anderes bedeutet der deutsche Exportüberschuss, auf den (unzutreffenderweise) „stolz“ zu sein man uns jahrelang eingeredet hat:

Außenhandel
Quelle: bpb.de (12. Mai 2022)

Wenn diese Entwicklungen mit mehreren Millionen unterbeschäftigten Personen möglich waren, dann ist die Sorge, durch die hier dargelegten Reformvorschläge würde man den nationalen Wohlstand verspielen, vollkommen unbegründet – immerhin würden durch die staatliche Jobgarantie noch mehr Menschen Arbeit haben als zuvor, wodurch der volkswirtschaftliche Output eher ansteigen als sich verringern dürfte. Und da insbesondere ärmere Privathaushalte mehr Geld zur Verfügung hätten als zuvor, dürfte er sich auch deutlich gerechter verteilen als bisher.

Es ist insgesamt daher weder in ethischer, juristischer noch in ökonomischer Hinsicht gerechtfertigt, jene Bevölkerungsminderheit zu diskreditieren, für die Erwerbstätigkeit kein Bestandteil eines legitimen selbstbestimmten Lebens darstellt. Ebenso ungerechtfertigt ist es, jene wenigen freiwillig erwerbslosen Personen mit der Vielzahl von unfreiwillig erwerbslosen gleichzusetzen und sie alle unter einen moralischen Generalverdacht zu stellen.

Genau das ist aber unter dem – ausgerechnet von einer sich selbst als sozialdemokratisch (!) bezeichnenden Partei – 2003 beschlossenen Hartz-Regime erfolgt, und das vielerorts als „Reform“ gefeierte Bürgergeld wird von dieser unerträglichen, zynisch praktizierten und menschenrechtswidrigen „Nächstenliebe“ leider nicht abkehren. Das deutsche Sozialsystem bleibt damit weiterhin ein trauriges Beispiel für die gewaltige Kluft, die zwischen dem Postulieren hehrer Werte und deren tatsächlicher Umsetzung liegen kann. Wann also reden wir endlich ernsthaft über eine Entschuldigung und Entschädigung für all das Leid, das wir im Namen einer pervertierten Vorstellung von „Fürsorge“ in den letzten 20 Jahren verursacht haben und immer noch verursachen?

[Zu Teil 2 geht es hier entlang. Dort lege ich dar, wie a) Inflation und Lohnentwicklung miteinander zusammenhängen, b) Arbeitslosigkeit bewusst als Mittel der Inflationsbekämpfung eingesetzt wird und deshalb wirtschaftspolitisch gewollt ist sowie c) die Lohnzurückhaltung der letzten Jahrzehnte für eine schlechtere Verteilung des materiellen Wohlstands gesorgt hat. Armuts- und Hartz-4-Betroffene finden unter www.my-sozialberatung.de eine Liste von bundesweiten Anlaufstellen zur Unterstützung und rechtlichen Beratung.]

Humanistische Grüße und bis neulich
Max

[1] Da der Schutz der Einzelnen im Vordergrund steht und (unter der Voraussetzung echter moralischer Mündigkeit) nur jede Person für sich selbst definieren kann, was unter der „Achtung“ der je eigenen Würde zu verstehen ist, ist die Überprüfung bestehender gesellschaftlicher Regeln aus moralphilosophischer Sicht bereits dann geboten, wenn nur eine einzige Person den Vorwurf der Verletzung der eigenen Würde erhebt. Gerade in Bezug zur Grundsicherungsreform von 2005 haben wir es aber nicht mit einem einzigen, sondern mit einer gewaltigen Menge von Erfahrungsberichten zu tun, die unserer Gesellschaft die erhebliche Missachtung des je persönlichen Würdegefühls vorwerfen, etwa aus den Jahren 2004, 2005, 2006, 2007, April 2008, Mai 2008, Juni 2009, November 2009, Januar 2010, März 2010, Februar 2011, Juli 2011, September 2011, Februar 2012, Dezember 2012, August 2013, November 2013, 2014 (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3), Januar 2015, März 2015, August 2015, Oktober 2015, Mai 2016, Juni 2016, Juli 2016, September 2016, Oktober 2016, April 2017, Mai 2017, August 2017, September 2017, März 2018 (Beispiel 2), August 2018 (Beispiel 2), Januar 2019, Februar 2019, September 2019, November 2019, Januar 2020, Oktober 2020, November 2020, April 2021, September 2021, Oktober 2021, November 2022 (Beispiel 2) sowie zuletzt, aber leider nicht abschließend vom Dezember 2022.