Häufig hört man von der Verleihung des „Wirtschaftsnobelpreises“, aber tatsächlich hat Alfred Nobel niemals einen Preis für die Wirtschaftswissenschaften gestiftet. Warum wir gut daran täten, diesen „Nobelpreis“, der keiner ist, anders zu bezeichnen.
Vor rund einem halben Jahr ist in Schweden der „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“ vergeben worden, gemeinhin bekannt als „Wirtschaftsnobelpreis“ – und zwar an drei US-Ökonomen, die sich mit der Rolle von Geschäftsbanken bei Finanzkrisen beschäftigt haben. Auch wenn die Bezeichnung des Preises eine weitgehende Einigkeit der wirtschaftswissenschaftlichen Fachwelt unterstellen lässt – die Preisvergabe an Ben Bernanke, Douglas Diamond und Philip Dybvig ist nicht ohne Unverständnis geblieben und sollte durchaus kritisch hinterfragt werden.
Mehr noch aber als die Preisträger von 2022 verdient die sehr geläufige und leicht dahingesagte Bezeichnung des Preises als „Wirtschaftsnobelpreis“ unsere kritische Aufmerksamkeit. Dieser Begriff legt nämlich nahe, dass es sich
1) bei diesem Preis um einen von Alfred Nobel legitimierten Wissenschaftspreis handelt, der
2) die Wirtschaftswissenschaft in engen Zusammenhang mit den von Nobel hauptsächlich geförderten Naturwissenschaften bringt.
Bei Punkt 1 handelt es sich um eine historische Ungenauigkeit, die aus einer wissenschaftskommunikativen Sicht weniger schwerwiegend erscheint als Punkt 2. Dank einer diesbezüglich transparenten Berichterstattung wird nämlich mittlerweile regelmäßig darauf hingewiesen, dass der Großindustrielle Alfred Nobel von der Disziplin der Ökonomik vergleichsweise wenig hielt und sie deshalb auch nicht als herausragende Wissenschaft in seinem Testament bedachte. Stattdessen wurde der Preis erst im Jahre 1969 von der Schwedischen Zentralbank im Umfeld der neoklassischen Wirtschaftstheorie gestiftet.
Sehr viel fragwürdiger hingegen ist die in Punkt 2 angeführte Tendenz, die Wirtschaftswissenschaft zusammen mit den übrigen „Nobelwissenschaften“ als Naturwissenschaft zu verstehen. War Adam Smith, dem „Urvater“ der heute vorherrschenden neoklassischen Ökonomik noch klar, dass er Moralphilosophie und damit Geisteswissenschaft betreibt, so glauben die heutigen NeoklassikerInnen tatsächlich, es würde sich bei ihrer Disziplin um eine exakte (und deshalb an sich unpolitische) Naturwissenschaft handeln. Der Volkswirt und Kulturwissenschaftler Walter Ötsch hat diese Selbstauffassung der Mainstream-Ökonomik deshalb einmal als „moralfreie Sozialphysik“ beschrieben.
Diese Selbstbeschreibung kann aber in keinster Weise darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Ökonomik fundamental um eine Gesellschaftswissenschaft handelt – und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnis ist wesentlich offener und interpretationsbedürftiger als die Erkenntnis exakt berechenbarer Naturwissenschaften.
Genau aber diese Offenheit und Diskussionswürdigkeit wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis und der aus ihr resultierenden wirtschaftspolitischen „Empfehlungen“ wird durch das übergeworfene Kleid der Naturwissenschaft negiert. Statt (dem herkömmlichen Wissenschaftsverständnis nach) Wirklichkeit zu „beschreiben“, betreibt die neoklassische Volkswirtschaftslehre damit eigentlich die Gestaltung von Wirklichkeit, über die aber nicht reflektiert und debattiert werden darf – denn sonst begeht man ja einen Fehler gegen die „natürliche Logik“ des Marktes.
Die gesellschaftspolitische Entsprechung dieser „wissenschaftlich“ legitimierten Einengung findet sich im Ausspruch Angela Merkels nach „alternativlosen Sachzwängen“, über die man nicht mehr demokratisch entscheiden, sondern die man nur noch „notwendigerweise“ umsetzen kann; ein aktuell eindrückliches Beispiel für diese Entdemokratisierung politischer Sachverhalte zeigt sich in Frankreich und der von Macron aufoktroyierten Verschlechterung des Rentensystems. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Geld- und Geldschöpfungspolitik zu nennen, die nach neoklassischer Lesart vollkommen entdemokratisiert gehört, weshalb der Geld- und Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr treffend von einer „Ideologie des unpolitischen Geldes“ spricht.
Aus diesen Gründen ist der politische Frame „Wirtschaftsnobelpreis“ nicht nur sachlich unzutreffend, sondern sogar geeignet, die Vorherrschaft der heutigen Standard-Ökonomik als unhintergehbare Bastille moderner Hyperlogik fortzuschreiben, deren wirtschaftspolitische Ratschläge sich allein Kraft ihrer „Wissenschaftlichkeit“ einer demokratischen Debatte entziehen.
Es geht also bei den hier angestellten Überlegungen nicht darum, den bisherigen PreistägerInnen die Zugehörigkeit zum Feld der Wissenschaften abzusprechen, wohl aber darum, den Marketing- und Manipulationscharakter des „Gedächtnispreises“ zu erkennen und ihn vor dem Hintergrund der neoklassischen Verengung heutigen Denkens kritisch zu reflektieren. Denn es häufen sich die Indizien, dass gerade diese Verengung in der wirtschaftswissenschaftlichen und -politischen Debatte die immer weiter um sich greifende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Subsysteme begünstigt hat und als wesentliche Ursache für das anzusehen ist, was in der gegenwärtigen Soziologie und Kriminologie mittlerweile als „marktförmiger Extremismus“ diskutiert wird.
Wir sollten uns daher vom Begriff des „Wirtschaftsnobelpreises“ verabschieden und eindeutigere Bezeichnungen benutzen. Mögliche Vorschläge könnten etwa sein:
– „Wirtschaftspreis der Schwedischen Reichsbank“
– „Wirtschaftsgedächtnispreis der Schwedischen Reichsbank“
– „Wirtschafts(nobel)preis der Schwedischen Reichsbank“ (die Klammern sind hier ausschlaggebend)
Es sollte also stets deutlich gemacht werden, dass dieser Preis nichts mit den ursprünglichen (sehr stark an den Naturwissenschaften orientierten) Überlegungen Alfred Nobels zu tun hat. Die Ökonomik ist keine exakte Wissenschaft, sondern eine Sozialwissenschaft, die ihre eigenen theoretischen und normativen Vorannahmen regelmäßig kritisch überprüfen sollte.