Die „Griechische Staatsschuldenkrise“ ist eine direkte Folge der Finanz- und Bankenkrise von 2008 und stellt im Wesentlichen eine Geldschöpfungskrise (siehe Geldschöpfung) des griechischen Staates dar. Um die griechischen Banken vor der Zahlungsunfähigkeit zu schützen, hatte auch die griechische Regierung Ende 2008 Milliardenpakete geschnürt und somit die privaten Verbindlichkeiten des Bankensektors verstaatlicht. Im Oktober 2009 kündigte der neu gewählte Ministerpräsident Georgios Papandreou dann an, dass sich der griechische Staatsausgabenüberschuss (siehe dort) um 12,7 Prozent erhöhen würde, woraufhin die Ratingagenturen Fitch, S&P und Moody’s die „Kreditwürdigkeit“ griechischer Staatsanleihen abwerteten. Durch den weltweiten Abverkauf der Staatsanleihen stiegen in der Folge die Zinsen der griechischen Regierung für neu geschöpftes Zentralbankgeld auf bis zu 36,6 Prozent in der Spitze, während die Banken am griechischen Primärmarkt nicht mehr bereit waren, vorhandenes Zentralbankgeld an die griechische Regierung weiterzuleiten. Unter den selbst auferlegten Regeln der Eurozone und in den Augen der neoklassischen Volkswirtschaftslehre war Griechenland damit de facto zahlungsunfähig, weshalb Anfang 2010 händeringend nach einer Lösung gesucht wurde, über den „Umweg“ der Europäischen Zentralbank (EZB), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU-Kommission die Versorgung der griechischen Regierung mit Zentralbankgeld aufrechtzuerhalten.
Diese medial als „Troika“ bezeichnete Gruppe aus EZB, IWF und EU-Kommission erarbeitete ein erstes Kreditpaket, das mit massiven Kürzungsauflagen für Griechenlands Regierung einherging und ohne Befragung der griechischen Bevölkerung im Mai 2010 beschlossen wurde. Eine Ende Oktober 2011 angekündigte Volksbefragung wird nicht durchgeführt, da Ministerpräsident Papandreou auf internationalen Druck hin (insbesondere aus Deutschland) zurücktrat und durch Loukas Papademos ersetzt wurde, der als langjähriger Vizepräsident der EZB im Februar 2012 schließlich das zweite Kredit- und Sparpaket durchwinkte. Erst im Zuge des dritten Kreditpaketes kommt es am 5. Juli 2015 zu einer Volksabstimmung, bei der sich 61,31 Prozent der griechischen Bevölkerung gegen die Kreditbedingungen und Kürzungsauflagen aussprechen. Da die griechische Regierung unter Alexis Tsipras das Kreditpaket nachverhandeln will, tritt der amtierende Finanzminister Yanis Varoufakis einen Tag nach dem Referendum zurück. Trotz des eindeutigen Votums der griechischen Bevölkerung wird am 19. August 2015 schließlich das dritte Kreditprogramm beschlossen, das weitere Auflagen zur Kürzung und Privatisierung staatlicher Aufgaben vorsieht. Der Großteil des Geldes aus den drei Kreditpaketen kam dabei gerade nicht der griechischen Regierung, sondern letztlich dem griechischen Bankensektor zugute und schützte dessen Gläubiger, meist selbst große europäische Finanzinstitute (Arte-Doku 2013: Staatsgeheimnis Bankenrettung).
Zur Unterstützung der Krisenbewältigung begann die EZB parallel ab Mai 2010 in ihrer Funktion als Kreditgeber der letzten Instanz von ihrer Fähigkeit Gebrauch zu machen, das langfristige Zinsniveau zu reduzieren und europäische Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt aufzukaufen. Da Staatsanleihen von Geschäftsbanken und institutionellen Investoren als besonders sichere Wertpapiere gehalten werden und einen Vergleichsmaßstab für den risikolosen Zins darstellen, sorgte diese medial und politisch als „Staatsfinanzierung“ missverstandene Zinspolitik der EZB für eine Stabilisierung des gesamten Finanzsystems, insbesondere der sogenannten Schattenbanken. Die in Deutschland viel kritisierte Niedrigzinspolitik der EZB bis Mitte 2022 ist damit eine Konsequenz der höchst fragwürdigen Architektur des Eurowährungsraumes, auf die die langjährige mediale Aufmerksamkeit sich eher hätte fokussieren sollen.
Was die sozioökonomischen und gesellschaftlichen (Langzeit-)Folgen des Kürzungsdiktats in Griechenland angeht, das ohne jede demokratische Legitimation und mit erpresserischen Mitteln durchgesetzt wurde (Arte-Doku von 2015: Die Troika. Macht ohne Kontrolle), so können diese nur als katastrophal bezeichnet werden. Von 2010 bis 2014 stieg die Suizidrate in der Gesamtbevölkerung um mehr als 50 Prozent an, die Suizidrate von Frauen verdreifachte sich sogar; aufgrund der massiven Kürzungen bei öffentlichen Gehältern, Rentenzahlungen, Sozialleistungen und Mindestlöhnen sanken die Reallöhne bis 2016 um 25 Prozent, weshalb sich Griechenland von 2013 bis 2016 sogar in einer Deflationsphase befand; die sinkende Gesamtnachfrage führte zu einer extremen Zunahme der Arbeitslosigkeit, die 2013 bei den traurigen Spitzenwerten von 27,5 Prozent (Erwachsene) und 58,3 Prozent (bis 24-Jährige) lag – selbst heute ist in Griechenland noch jede neunte erwachsene und jede dritte Person unter 24 Jahren unfreiwillig arbeitslos; die allgemeine Wahlbeteiligung sank, wodurch die extremistische Partei „Goldene Morgenröte“ besonders starken Zulauf erhielt und Teile der griechischen Bevölkerung sich nachhaltig radikalisierten (siehe auch Gabriel et al. 2022: The Political Costs of Austerity); viele AkademikerInnen und ÄrztInnen verließen das Land, was sich zusammen mit dem kaputtgesparten Gesundheitssystem insbesondere während der Corona-Pandemie als katastrophal herausstellte; die Situation Geflüchteter und Asylsuchender in Griechenland verschlechterte sich massiv und ist heute als eindeutig menschenrechtswidrig zu erachten; obwohl Griechenland seit Beginn der Eurozone das höchste Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatte, ist das griechische Bruttoinlandsprodukt von 2010 bis 2016 um 35 Prozent eingebrochen und entspricht selbst 2022 immer noch dem Stand von 2004; und die sogenannte „Staatsschuldenquote“, die als politische und mediale Rechtfertigung für die Kürzungsmaßnahmen galt und gegen alle volkswirtschaftliche Vernunft im Haushaltsrecht der Europäischen Union immer noch eine herausragende Rolle spielt, ist aufgrund des geringeren BIP heutzutage höher als zu Beginn der von außen verordneten Kürzungspolitik.
Es ist beispielhaft für die seit Jahrzehnten beobachtbare diskursive Einengung von demokratischen Entscheidungsspielräumen, dass die in Griechenland durchgesetzte Wirtschaftspolitik und das mit ihr einhergehende menschliche Leid von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2010 als „alternativlos“ bezeichnet worden waren. Dabei hatte der IWF in einem internen Papier vom 25. März 2010 schon frühzeitig Bedenken, dass es ohne Schuldenschnitte (bei denen die EigentümerInnen von griechischen Staatsanleihen Verluste eingefahren hätten) zu „einem drastischen Rückgang der Inlandsnachfrage und einer damit einhergehenden tiefen Rezession [kommen wird], die das soziale Gefüge schwer belastet“. Die Entwicklung der Geschehnisse gibt dem IWF tragischerweise recht, weshalb die zu den Vereinten Nationen gehörende Institution 2013 zum ersten Mal Fehler bei der Krisenbewältigung eingestand. Der misshandelten griechischen Bevölkerung hilft das wenig (siehe „Die Anstalt“ vom 31.03.2015), auch wenn die Zinspolitik der EZB gegenwärtig die griechische Regierung unterstützt. Man kann nur hoffen, dass es dabei bleibt und dass die zukünftigen Ausgaben- und Geldschöpfungsregeln der EU sinnvoller, humaner und investitionsfreundlicher ausfallen, als sie es heute sind. Und dass man sich darauf besinnt, dass in einer Währungsunion zur Steuerung der Inflationsrate nicht die Zinspolitik koordiniert werden muss, sondern die Lohnpolitik.
MRS